Reverse caring
Sorge, Fürsorge, Pflege. Wörter, die in der Zeit der COVID19-Pandemie an Bedeutung gewonnen haben. Einerseits sind Junge davon betroffen, die Home-Office und Kinder mit Homeschooling unter einen Hut bringen sollen. Sie benötigen Unterstützung. Andererseits ältere Personen, die Hilfe bei der Bewältigung des Alltags benötigen. Jene, die noch keine mobile Pflegerin benötigen und noch alleine in ihrer Wohnung leben wollen und auch können. Und mittendrinnen, altersmäßig gesehen, jene Gruppe, die sowohl den Jungen als auch den Älteren helfen soll und kann. Diese Personen im Alter von 50 und 70 Jahren haben Zeiten von Arbeit, Kindererziehung gerade hinter sich gebracht und haben begonnen, wieder aufzuleben. Die Partnerschaft neu zu entdecken, Hobbies wieder nachzugehen, die man aufgrund der Mehrfachbelastung nur reduziert ausgeübt hat, wieder von Ferienzeiten unabhängig zu reisen. Einfach zufrieden zu leben. Das ein oder andere Wehwehchen kommt und geht aber auch wieder. Damit ist es jene Phase im Leben, in der bei guter körperlicher Gesundheit, ausreichend vorhandenen finanziellen Mitteln das Leben wieder genießen kann. Da ich mich zu letzterer Gruppe zähle, geht es in diesem Artikel um Fürsorge, die man Älteren zurückgibt. Um Rollentausch.
Kindheit
Bis zum Alter von acht Jahren, hatte ich drei Urgroßmütter sowie zwei noch berufstätige Großeltern. Jeden Tag kam jemand anderer zu Besuch, ging mit mir spazieren, kochte mit mir, räumte mit mir auf. Ich lernte abzuwaschen, die Uromas schauten immer weg, wenn ich das Geschirrspülmittel ins Becken gab mit dem Ergebnis, dass die Schaumberge meine Freude am Geschirr abwaschen immer größer werden ließen. Auch Teppich ausklopfen, Staubwischen, einfach jemand bei mir zu haben, wenn ich wieder mal Fieber hatte oder ich wegen einer Kinderkrankheit vormittags nicht in den Kindergarten konnte, waren Teil meiner Kindheitserfahrung. Rücksichtnahme auf Mittagsschläfchen und auf Arbeitstempo gehörte auch dazu.
Rollentausch
Fast fünfundvierzig Jahre später erlebe ich nun etwas, was mir vor zwei Monaten zu denken gab. Meine Großmutter, mit der ich am Boden im Kinderzimmer herumgekollert bin, ist nun 90 Jahre. Immer noch mobil und flott unterwegs, aber sie sieht fast nichts mehr. Sie wird von meinem Großvater bekocht und gemeinsam erledigen sie den Haushalt. Bis vor einem Jahr war ich mit meinem eigenen Leben (Kinder, Beruf, Eltern begleiten in Krankheit) sehr beschäftigt, wir sahen uns bei Familiengeburtstagen und Feiern. Ein Anruf meiner Mutter im Dezember 2020 änderte einiges.
Sie benötigte meinen Rat, was sie wegen der Impfanmeldung machen sollte. Seit dem Tod meines Vaters hat sie gelernt mit Computer & Co umzugehen. Jedoch überforderte diese Website sie etwas. Nachdem ich mit ihr am Telefon alle Schritte am Computer durchgegangen war, kamen wir zum Punkt „Weitere Personen anmelden“. Auf meine Frage, ob sie nicht ihre Eltern (89 Jahre) eintragen möchte, kam ein Saloppes:“ Sie sollen sich doch selbst anmelden! Anrufen können sie ja!“ Ich schluckte, kenne sie jedoch lange genug um zu wissen, was sie damit meinte.
Selbständigkeit, auch im Alter, ist ihr enorm wichtig. Den Aufwand, den sie mit ihrer Mutter betreibt, um sie trotz beinahe Erblindung geistig zu fordern und rege zu halten, ist beachtlich. Vorlesen, darüber erzählen lassen, Merkfähigkeit trainieren mit Kantonen, Regionen und Ländern, und das fast täglich, zeugt doch von Ausdauer und Beharrlichkeit mit dem einzigen Ziel: sie soll möglichst lange eigenständig und geistig bleiben. Doch zurück zur Anmeldung beim Impfservice. Ich erinnerte sie daran, wie sie den Anmeldeprozess online bisher erlebt hatte, wie ich ihr dabei helfen musste. Schweigen am anderen Ende meiner Telefonleitung. Dann noch ein: „Gut, melden wir sie auch an!“. Erleichtert war ich als sie beide Namen und Geburtsdaten auch hinzufügte. Damit war es für´s Erste erledigt.
Innerer Kampf
In den folgenden zwei Monaten war ich beschäftigt, in meinem Studium mehrere Projekte abzuschließen und noch ein Praktikum im Ausmaß von 30 Stunden in einer Firma zu absolvieren. Februar war ich erledigt, körperlich und geistig. Es ging nicht mehr so leicht wie vor zehn Jahren, neben Kindern, Scheidung und Beruf berufsbegeleitend zu studieren. Nun mit 51 brauchte ich mehr als vier Stunden Schlaf.
Sollte ich aufgeben? Was von beiden und warum denn auch? Kann ja nicht so schwer sein, oder? Richtig. Nein. So hätte ich vor zehn Jahren agiert, weitermachen, bis ich kaputt bin. Nächtelang habe ich herumüberlegt, dann meine Entscheidung getroffen, das Praktikum schon nach drei Monaten zu beenden, die Projekte abzuschließen um mein Zeugnis für das dritte Semester zu bekommen als Nachweis für die Arbeitsstiftung. Und KollegInnen lass ich nicht hängen, schon gar nicht als Projektleiter. Regelmäßiger Schlaf kam wieder zurück, Kraft und Energie auch.
Stein des Denkanstosses
In dieser Pause des „Energie-wieder-finden“ begann ich zum ersten Mal seit Jahren meine Großeltern regelmäßig wöchentlich zu besuchen. Mit Maske. Mein Großvater freute sich riesig, doch mal etwas Anderes zu hören, sich auszutauschen. Meine Großmutter bekam mit meinen Besuchen auch neuen Gesprächsstoff. Ich konnte ihnen das zurückgeben, was sie mir in meiner Kindheit regelmäßig gegeben haben. Nähe, zuhören, erzählen lassen. Und immer fand sich etwas, wobei meine Hilfe willkommen ist. Den Gedanke, dass sie mich die ersten zehn Jahre meines Lebens begleitet haben und ich nun die Möglichkeit hätte, sie die letzten zehn Jahre begleiten zu können, fand ich sehr schön.
Gelegenheit dazu das Begleiten wahrzumachen, bekam ich schon bald. Ende Februar kam das e-mail mit dem Impftermin für beide. Meine Mutter meinte, sie fahren mit dem Taxi ins Austria Center. Bei meinem Besuch kurz vor dem Termin merkte ich die aufkommende Nervosität der Beiden. Nachdem ich dreimal mit öffentlichen Verkehrsmittel zum Testen dort war, waren mit die Gehdistanzen bekannt. Mein Angebot, sie mit dem Auto hinzubringen und auch zur Impfung zu begleiten wurde dankend angenommen.
Herausforderungen gemeinsam meistern
Um es kurz zu machen: die Wege waren für beide trotz Auto und Garage weit. Es war nicht nur der Weg, wo man durch Garagentüren durch musste, mit dem Lift nach oben und dann von Security Mitarbeiter zu Mitarbeiter geleitet wurde. Dazwischen Fragen nach e-card, Einladungsschreiben, Ausweis,.. . Dinge, die meinen Großvater stressen, da er auch für meine Großmutter alles mit erledigen muss. Er hatte alles perfekt sortiert und vorbereitet. Es ist Angst dabei, etwas zu überhören, denn mit Maske versteht er Personen viel schlechter. Vielleicht ist er auch unsicher, weil er seit einem Schlaganfall vor zehn Jahren Dinge mit einer Hand nicht mehr so sicher greifen kann. Einfach, weil seine körperlichen Voraussetzungen und seine Ansprüche an sich selbst der heutigen, schnellen Zeit nicht gerecht werden. Auch, wenn alle Mitarbeiter sehr nett und hilfsbereit sind.
Drinnen in der Halle ist es warm, man steht in Hut und Mantel und wartet bis man zum Arztgespräch antreten darf. Auch dieser ist nett, bemüht laut und in einfachen, gut verständlichen Worten die Fragen meiner Großeltern zu beantworten. Aufgrund der Maske ist es für meine Großmutter nicht möglich, ihn zu verstehen. Die Stimmlage, zu viele Umgebungsgeräusche. Sie ist fast blind und das Gehör hat in letzter Zeit offensichtlich auch einige Frequenzen ausgelassen. Nachdem ich nochmals die Worte des Arztes wiederholt habe, ist sie mit einer Unterschrift auf dem Formular einverstanden.
Einfach dem Pfad folgen, der am Boden markiert ist und dann geht es zur Impfung. Kurz und schmerzlos, dann noch fünfzehn Minuten warten. Beiden geht es gut und sind am Rückweg zur Garage. Dank einer fantastischen Orientierung findet sie sich gut zurecht, mein Großvater ist froh, dass wir wieder am Heimweg sind. Alleine mit dem Taxi wäre es für sie sehr schwierig gewesen, geben sie einstimmig zu.
Wenn nicht jetzt, wann dann
Lange habe ich überlegt, denn Besuche und Aktivitäten wie diese kosten Zeit und sind neben einer vollen Berufstätigkeit kaum möglich. Wann soll ich es denn machen, wenn nicht jetzt. Den beiden sind hoffentlich noch einige Jahre eigenständiges Leben möglich. Ich habe nur jetzt die Möglichkeit, sie, wenn Hilfe benötigt wird, zu unterstützen. Einmalig. Nicht aufschiebar. Vielleicht gibt es keine nächsten Monate, kein nächstes Jahr. Auch Gespräche z.B. über ihre Kindheit, über ihr Leben, sind nur jetzt möglich. Ich möchte die Zeit nutzen und zurückgeben, was sie mir in anderer Form als Kind gegeben haben.
Eine Woche später entschloss sich meine Großmutter eine chinesische Akupunkteurin aufzusuchen. Statt das zehnte Pulver für ihre Darmentzündung zu nehmen, versucht sie einen neuen Weg. Nachdem sie diese Methode sehr lange vehement abgelehnt hatte, da es Geld kostete und eh nichts bringt, war ich erstaunt über ihren Entschluss. Ich begleite sie nun wöchentlich zur Akupunktur, die ihr offensichtlich gut tut. Sie macht die verordneten Fussbäder und merkt Besserung. Beim zweiten Impftermin drei Wochen später fand die Impfung ein Stockwerk tiefer statt, der Weg war länger, der Rückweg in die Garage ist schwierig zu finden, auch gab es keinen Lift. Zusammen wurde auch das bewältigt.
Auf die nächsten zehn Jahre
Reverse caring ist kein leerer Begriff, kein modernes buzz word im Bullshit-Bingo der Gesellschaft für mich. An die eigenen Grenzen stoßen, nachdenken, anpassen und handeln. Manchmal ist damit auf Verzicht verbunden, egal ob auf Zeit oder Geld (in einem Job). In diesem Sinn: auf die nächsten zehn Jahre.